Wiesbaden/Frankfurt, 04 April 2023
Nur noch drei Wochen bleiben bis zum Beginn der 23. Ausgabe des vom DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum veranstalteten goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films (26. April bis 02. Mai) in Wiesbaden und der umliegenden Region. Ein Teil des Programms wird in Zusammenarbeit mit dem VoD-Anbieter Filmwerte auch online zur Verfügung stehen.
Der goEast Eröffnungsfilm – AURORA’S SUNRISE
Die 23. Ausgabe von goEast eröffnet mit dem Film AURORA’S SUNRISE (Aurora – Star wider Willen, Armenien, Deutschland, Litauen 2022). Die Spurensuche von Regisseurin Inna Sahakyan führt uns in die 1910er Jahre zurück, als der grauenhafte Genozid an dem armenischen Volk verübt wurde. Die junge Armenierin Arshaluys Mardigian überlebte den Völkermord und schaffte die Überfahrt in die USA, wo sie ihre Autobiografie veröffentlichte. Das Buch wurde 1919 in Hollywood aufgegriffen, und unter dem Titel AUCTION OF SOULS verfilmt. Der Stummfilm erzählt den Überlebenskampf Arshaluys Mardigians und sie selbst spielt die Hauptrolle. Der Film war ein Box Office Hit, von dem leider nur Bruchstücke erhalten sind. Inna Sahakyan kombiniert dieses Archivmaterial mit Animationen, rekonstruiert die Geschichte und gedenkt den grauenhaften Ereignissen des Genozids am armenischen Volk, ein nach wie vor relevantes Thema.
Filme von Frauen über Frauen, Dramen, Dokumentarfilme, Komödien und Porträts aus dem Osten und Mitte Europas – die ganze Vielfalt im goEast Wettbewerb
Das Herzstück des Festivals, der Wettbewerb, umfasst ein großes Programm und bietet dem breiten Publikum aus Wiesbaden und der Region die Chance, Höhepunkte des aktuellen mittel- und osteuropäischen Films näher kennenzulernen. Eine fünfköpfige internationale Jury vergibt drei Preise im Wert von insgesamt 21.500 Euro und die Jury der FIPRESCI vergibt zwei Preise der Internationalen Filmkritik. Besonders begehrt ist die mit 10.000 Euro dotierte „Goldene Lilie“ als Hauptpreis des Wettbewerbs von goEast. Die Landeshauptstadt Wiesbaden vergibt den Preis für die Beste Regie, der mit 7.500 Euro dotiert ist.
Nachdem bereits der Eröffnungsfilm ein Frauenschicksal von Frauenhand zeichnet, geht der Wettbewerb mit NOT A THING (Veszélyes lehet a fagyi, Ungarn, 2022) unter der Regie von Fanni Szilágyi los. Adèl und Evá sind eineiige Zwillinge, die sich in konträren Lebenssituationen befinden. Das angespannte geschwisterliche Verhältnis spitzt sich dramatisch zu. Das feministische Science-Fiction-Drama ORDINARY FAILURES (Běžná selhání, Tschechien, Ungarn, Italien, Slowakei, 2022) von Cristina Groșan bringt die Schicksale von drei Frauen kurz vor dem Ende der Welt zusammen. Bei REMEMBER TO BLINK (Per arti, Litauen, 2022) von Austėja Urbaitė handelt es sich um ein psychologisches Drama. Ein französisches Ehepaar beschließt vor der Adoption eines Geschwisterpaares aus Litauen, die litauische Studentin Gabriele einzustellen, um zu dolmetschen und die Eingewöhnung der Kinder zu unterstützen. Daraus entwickelt sich ein spannendes, psychologisch tiefgründiges Drama. Dramatisch und turbulent geht es auch in THE BEHEADING OF ST. JOHN THE BAPTIST (Usekovanje, Serbien, 2022) von Siniša Cvetić zu. Wo treffen UFOs, Paralleluniversen, Alkoholkonsum, Generationskonflikte und Drogen aufeinander? Bei einem Abendessen mit der ganzen Familie während der Pandemie im Elternhaus. Ein gesellschaftskritisches Drama ist auch Marko Šantićs WAKE ME (Zbudi me, Slowenien, Kroatien, Serbien, 2022). Nach einem Unfall leidet Rok unter einem temporären Gedächtnisverlust und erkennt selbst seine Freundin Rina nicht wieder. Nur an seine Heimatstadt und an sein ehemaliges Zuhause kann er sich erinnern. Nach einem wenig herzlichen Empfang dort setzt Rok langsam seine Vergangenheit wieder zusammen und erinnert sich an seinen xenophoben Freundeskreis, an Manipulation und Gewalt.
Das dokumentarische Gesellschaftsporträt MOTHERLAND (Mutterland, Schweden, Ukraine, Norwegen, 2022) unter der Regie von Alexander Mihalkovich und Hanna Badziaka aus Belarus wurde 2019 zum ersten Mal beim East-West Talent Lab gepitcht und gewann damals das Renovabis Recherchestipendium für Dokumentarfilme mit Menschenrechtebezug. Die Belarussin Svetlana glaubt nicht, dass ihr Sohn während seines Militärdienstes Suizid begannen hat, wie es offiziell heißt. Sie kämpft dafür, dass die Mörder ihres Sohnes zur Verantwortung gezogen werden und die brutalen Schikanen in der belarussischen Armee, denen ihr Sohn zum Opfer gefallen ist, enden. Wenig später beginnen die Proteste nach der Wiederwahl von Alexander Lukashenka und mit ihnen ihre brutale Niederschlagung durch die Staatsmacht. Im Coming-of-Age-in-War-Dokumentarfilm WE WILL NOT FADE AWAY (My ne zgasniemo, Ukraine, Frankreich, Polen, 2023) unter der Regie Alisa Kovalenkos wächst eine Gruppe Jugendlichen im Donbass auf. Der Lärm von Gewehrsalven gehört für die Freundesgruppe genauso zu ihrem Alltag wie die gewöhnliche Frage, was nach dem Schulabschluss folgt. Eine Frage mit einem besonders bitteren Beigeschmack, wenn die Perspektiven in der eigenen Heimat begrenzt sind und der Krieg vertraute Orte zerstört. Nicht zerstörbar sind ihre Hoffnungen und Träume. Alisa Kovalenko gewann mit ihrem Film HOME GAMES 2019 den Preis für kulturelle Vielfalt bei goEast.
Einen besonderen Platz im Wettbewerb haben zweizentralasiatische Filme. Gedächtnisverlust ist im Gesellschaftsporträt THIS IS WHAT I REMEMBER (Esimde, Kirgistan, Japan, Niederlande, Frankreich, 2022) des kirgisischen Altmeisters Aktan Arym Kubat Thema. Der vermisste Mann Zarlyk kehrt nach 20 Jahren Gastarbeit in Russland zurück nach Kirgisistan. Mit seiner Familie kann Zarlyk nichts anfangen, da er sein Gedächtnis verloren hat. Mit stoisch schweigender Miene macht er das, was ihm als einzige Erinnerung blieb – die Straßen des Dorfes von Müll zu befreien. Das Trauma der Gastarbeit, die gegensätzlichen Kräfte in einer postsowjetischen Dorfgemeinschaft und der Versuch, trotz aller Brüche wieder zueinanderzufinden, werden mit ruhiger Hand gezeichnet. Regisseur und goEast-Stammgast Adilkhan Yerzhanov nimmt uns mit seinem Rachewestern GOLIATH (Kasachstan, 2022) erneut mit nach Karatas: das Dorf im kasachischen Middle-of-Nowhere, wo bereits viele von Yerzhanovs vorherigen Filmen spielten. Dort herrscht der skrupellose Gangsterboss Poshaev. Yerzhanovs Neuerzählung des „David gegen Goliath“-Topos entfaltet sich bedächtig und mit Blick auf das Universelle.
Der Genrefilm ist nicht nur durch Adilkhan Yerzhanov, sondern auch durch den ukrainischen Film noir LA PALISIADA (Ukraine, 2023) von Philip Sotnychenko vertreten. Er erzählt die Geschichte von Aisel und Kiril, die Mitte der 1990er Jahre innerhalb starker patriarchalischer Strukturen aufwachsen. Die Väter, beides Polizisten, ermitteln in einem Mordfall. Doch um der Öffentlichkeit einen Täter präsentieren zu können, überschreiten die Ermittler das Gesetz. Der Verschwörungsthriller TRAIL OF THE BEAST (Trag divljači, Serbien, 2022) von Nenad Pavlović spielt 1979 in Belgrad. Der angehende Journalist Jugoslav Bucilo beginnt im Fall des als vermisst geltenden ehemaligen Studentenführers Aljoša Josić Nachforschungen anzustellen. Im Zuge dessen wird er in einen Mordfall verwickelt, in den nicht nur Aljoša, sondern auch sein Vater Blagoje – ein hoher Angestellter beim Geheimdienst, von Kultschauspieler Miki Manojlović verkörpert – verstrickt zu sein scheinen. Im Rahmen der diesjährigen Archivpräsentation zeigen wir in diesem Jahr auch einen Film von Nenad Pavlović‘ Vater Živojin FAREWELL UNTIL THE NEXT WAR (Nasvidenje v naslednji vojni, Jugoslawien, 1980). TRAIL OF THE BEAST ist auch eine Hommage an das Werk des Vaters.
Mit JANUARY (Janvāris, Lettland, Litauen, Polen, 2022) nimmt Regisseur Viesturs Kairišs das Publikum mit in das Baltikum im Jahr 1991, als die sowjetischen Spezialeinheiten im Einsatz sind und versuchen, das baltische Bestreben nach Unabhängigkeit zu unterdrücken. POLISH PRAYERS (Polnische Gebete, Schweiz, Polen, 2022), das Dokumentarfilmdebüt der Regisseurin Hanka Nobis, ist ein paradoxes Porträt. Vier Jahre lang begleitet sie Antek, der inmitten einer tiefreligiösen und konservativen Familie im heutigen Polen aufwächst. Katholizismus, Nationalismus und eine patriarchale Vorstellung von Männlichkeit bestimmen sein Leben. Aufgezeigt werden nicht nur die innere Zerrissenheit eines jungen Mannes, sondern auch die tiefe Spaltung der polnischen Gesellschaft. Der gewaltvolle Montagefilm MANIFESTO (Russland, 2022) von Angie Vinchito (ein Künstler:innenpseudonym, um die Identität des russischen Filmschaffenden zu schützen) zeigt Gewalt im Schulsystem und im Alltag im gegenwärtigen Russland, aus der Perspektive von Schulkindern und Jugendlichen. Der aus Youtube- und Handyvideos zusammengesetzte Film veranschaulicht eine systematische Brutalität gegen junge Menschen.